Maiandacht 4.5.2005, St. Jakob am Anger, München

Die verlorene Heimat: Verlust und Vertrauen
Leo Cardinal Scheffczyk

(Bilder am Ende des Artikels)

Der Monat Mai ist nach einem alten Dichterwort das "Magnificat" der Natur auf ihren Schöpfer. Die katholischen Christen fügen diesem natürlichen Lobgesang das übernatürliche "Magnificat" hinzu, das Maria vor Elisabeth gesungen hat. Sie feiern daraufhin den Mai als den herausragenden Marienmonat, zu dem in diesem Land auch das heute gefeierte Fest "Patrona Bavariae" gehört, das wir dankbar mitfeiern.

Die Oberschlesier haben in ihrer alten Heimat den Marienmonat Mai besonders innig begangen, woran wir uns in unseren Maigottesdiensten erinnern wollen. Aber der Maienmonat dieses Jahres 2005 ist von besonderen Erinnerungen gekennzeichnet. Wir begehen in diesen Tagen das 60jährige Gedächtnis des Endes des unseligen Zweiten Weltkrieges mit der Niederlage Deutschlands, wir gedenken der Beseitigung der unmenschlichen Naziherrschaft, der Befreiung der Konzentrationslager, aber als Heimatvertriebene müssen wir in diese Erinnerung auch den Beginn der Vertreibung und den Verlust der Heimat einschließen. So hat die Erinnerung an das Kriegsende und seine guten Folgen für uns immer auch etwas Doppeldeutiges und Zwiespältiges an sich: Wir empfinden dabei Erhebendes und Bedrückendes zugleich, Tröstliches und Trauriges, Befreiung und Belastung,. Wir können jedenfalls nicht, wie es manche in diesen Tagen tun, allein den Sieg der Roten Armee über den östlichen Teil Deutschlands feiern, sondern wir müssen uns auch an das daraus gekommene Unheil für unser Land erinnern, zumal an das Unrecht der Vertreibung, das heute von vielen bewußt übersehen wird und das als geschichtliche Wahrheit vergessen werden soll.

1. Wir aber müssen uns daran erinnern aus der Verbundenheit zur Heimat, die wir äußerlich verloren haben, der wir uns deshalb aber innerlich umso inniger verpflichtet fühlen. Diese Erinnerung hat nichts mit Gefühlsüberschwang oder mit kindlicher Heimwehkrankheit zu tun; sie entspringt auch nicht einer Gesinnung der Anklage oder der Vergeltung, sie kommt zutiefst aus der Erkenntnis des geistigen Wertes der Heimat, einer Erkenntnis, welche zur Versöhnung mit dem polnischen Volk hinzugehört. Diesen Wert dürfen wir nicht preisgeben, weil er zur Grundlage von Kultur und Humanität, von gesittetem Leben, von Religion, von Tradition und Fortschritt in der menschlichen Gemeinschaft gehört.

Heimat meint zunächst einen begrenzten äußeren Raum, in dem die Menschen ihren leiblichen Ursprung erfahren und ihre arteigene Prägung empfangen durch Sprache, durch Geschichte und durch das Erleben von Gemeinschaft. Heimat hat im Kern etwas Gemeinschaftliches, ja etwas Familiäres an sich. Sie ist wie eine in Raum und Zeit sich ausweitende Großfamilie, von der der Mensch sich leiblich und geistig getragen weiß, in der er sich verwurzelt fühlt und in einem Zuhause geborgen ist. In diesem Getragen- und Gehaltensein gewinnt der einzelne festen Grund, gesicherten Stand, eigenen Charakter, aber auch die grundlegende Ausrichtung auf die Gemeinschaft. Die höchste Form dieser Gemeinschaft aber verwirklicht sich geistig in der Gemeinschaft der Religion, des Glaubens und der Kirche, welche für die Oberschlesier in ihrer Geschichte immer in besonderer Weise "Heimat" war.

Wer diese geistigen Werte, die in der Heimat wurzeln, tiefer bedenkt, wird freilich zugleich feststellen, wie sehr sie der heutigen Menschheit abhandengekommen sind. Der heutige Mensch besitzt im allgemeinen nur noch wenig von diesem inneren Stand und Halt, von diesem räumlichen und geistigen Zuhause. Er ist weithin dem Wandel, dem Wechsel, der fortschreitenden Mobilität unterworfen, die ihn überall und nirgends zuhause sein läßt. Am deutlichsten wird das sichtbar an der wachsenden Bindungslosigkeit der Menschen, an der Flucht vor der Gemeinschaft und am Zerfall der Familie. Von da aus läßt sich heute auch das Schwinden der Bindung an Religion und Kirche erklären. Wer ohne Bindung existiert, findet auch keine Bindung und keine Heimat in der Kirche. Wer aber bewußt an dem Wert der Heimat festhält, der wird den Verlust der Heimat doppelt schwer empfinden.

2. So wird sich unser Gedenken heute besonders auch auf jene tragischen Ereignisse richten, die vor 60 Jahren im deutschen Osten mit der Vertreibung begannen. Es war das nach den Untaten der Hitlerdiktatur ein neuer Greuel an den Menschen, der unter Unrecht und Gewalt begangen wurde. Für viele Betroffene endete die Vertreibung mit leiblicher und seelischer Verwundung und für manche auch mit dem Tod. In Frost und Kälte, unter Schmerz und Hunger, unter Preisgabe von Hab und Gut wurden unsere Landsleute vielfach von Haus und Hof vertrieben und in die Ungewißheit eines auch schon halbzerstörten Landes, in den Restteil Deutschlands gebracht, das mit den 12 Millionen Vertriebenen eine gewaltige Aufgabe übernahm, die - das muß um der geschichtlichen Gerechtigkeit willen gesagt werden - im ganzen erstaunlich glücklich gelöst wurde.

Wenn wir uns heute daran erinnern, dann tun wir das nicht, um vernarbte Wunden wieder aufzureißen, sondern um die Haltung unserer Landsleute, von Eltern und Geschwistern, von Verwandten und Freunden der ersten Erlebnisgeneration der Vertreibung als sittliches Tun und als gewaltiges Opfer vor Gott und den Menschen zu würdigen. Sie konnten oft nicht verstehen - und wir selbst verstehen es auch heute noch nicht - wie etwas so Grausames wie die Vertreibung geschehen durfte. Aber sie zerbrachen daran nicht, sie ertrugen es als Fügung der göttlichen Vorsehung im Vertrauen darauf, daß Gott selbst aus dem Bösen etwas Gutes werden lassen kann.

Unter den vielen ergreifenden Zeugnissen der Vertreibung ist uns die Predigt eines Pfarrers erhalten, die er unmittelbar vor dem gewaltsamen Auszug seiner Gemeinde hielt. Er erinnerte dabei zunächst an das Gebet Jesu im Ölgarten: "Vater, wenn es möglich ist, so laß diesen Kelch an uns vorübergehen. Aber nicht unser, sondern dein Wille geschehe". Dann fügte er überzeugt und wirklichkeitsnah hinzu: "Wir wissen, daß die Dinge trotz unseres Betens ihren Lauf nehmen werden. Doch Gottes Macht ist groß; wenn er geschehen läßt, was uns passiert, weiß er, warum". Das war ein großartiges Zeugnis für den Glauben an die göttliche Vorsehung, in dessen Kraft viele unserer Landsleute ihr Geschick annahmen und es als lebendiges Opfer im Vertrauen auf Gottes geheimnisvolle Führung darbrachten. Im Jahre 1946 hat Papst Pius XII. in einer Botschaft an die Heimatvertriebenen diese gläubige Haltung vieler Vertriebener eigens gewürdigt und ihnen gesagt: "Unsere geliebten Söhne und Töcher, die ihre Heimat unter so leidvollen Umständen verlassen mußten, ermahnen wir, nicht wankend zu werden im Vertrauen auf Gott, der in seiner Allmacht und Liebe auch das Schwere zum Besten zu lenken vermag".

Es war schließlich auch dieses Vertrauen, das die Vertriebenen befähigte, in der darauffolgenden Zeit zusammen mit den Einheimischen in einer geschichtlichen Gemeinschaftsleistung den Wiederaufbau des zerstörten Deutschland ins Werk zu setzen und sich selber beinahe aus dem Nichts neue Lebens- und Existenzgrundlagen zu schaffen. Das war eine einzigartige geschichtliche Leistung, die unsere heutige, in Genuß und Selbstsucht verfallene Wohlstandsgesellschaft gar nicht mehr zuwegebringen könnte. Dabei dürfen wir den Dank an unser Gastland und an die einheimischen Brüder und Schwestern nicht vergessen.

3. Man spürt, daß diese Geschehnisse nicht nur der gedanklichen Erinnerung wegen aus der Vergangenheit hervorgeholt werden. Erinnerungen sind für den Menschen nur so viel wert, als sie sich im Leben des Menschen auswirken, in seinem Dasein Spuren hinterlassen und es ändern. Die Vertreibung gehört zur Geschichte unserer Landsmannschaft und muß sich als Erkenntnis, als Erfahrung und Erlebnis in unserer Lebenswirklichkeit niederschlagen. Das heißt, daß wir aus dem Vergangenen auch lernen und die rechten Lehren daraus ziehen müssen. In bezug auf die äußeren Folgen der Vertreibung haben das die Historiker, die Rechtsgelehrten und die Politiker zu tun, die nach Recht und Unrecht dieser Geschichte fragen, die die Wahrheit des Geschehenen ergründen müssen, der dann auch die Politik Rechnung tragen muß. Da ist noch manches zu tun.

Aber für die inneren geistigen Schlußfolgerungen aus der Vertreibung und für die Aufarbeitung dieses Geschehens sind wir Christen in unserem Glauben zuständig. So kann uns die Vertreibung manche tiefere Erkenntnis und manche Lebensweisheit vermitteln. Sie kann uns Einblick gewinnen lassen in die Leiderfülltheit unseres Daseins, in die Zerbrechlichkeit aller menschlichen Ordnungen, auch in die Hinfälligkeit alles Zeitlichen. Die vergangene tragische Geschichte lenkt unseren Blick zuletzt von der ausschließlichen Zuwendung an die irdische Heimat ab und richtet ihn auf die wahre, endgültige Heimat im Himmel.

In diesem Aufblick nach oben aber darf die Verantwortung und die rechte Sorge um die irdischen Anliegen nicht vergessen werden: um Recht und Ordnung, um das Wahre und Gute in der Gesellschaft. Letztlich ist ein würdiges Menschsein und eine gerechte Gemeinschaft nur zu gewährleisten aus der Kraft christlichen Glaubens. Unsere Vorfahren aus der ersten Stunde der Vertreibung haben diesen Glauben bewahrt und bewährt. Wir sind verpflichtet, ihn aufs neue zu beweisen, z. B. in einem werdenden Europa, dem der christliche Geist erhalten bleiben muß. Darum sind wir heute wiederum aufgerufen, wie Benedikt XVI. es in einer seiner ersten Predigten formulierte, "die Menschen aus der Wüste herauszuführen zu den Orten des Lebens". Dieses Leben aber ist für uns Christus. So müssen wir den Menschen Christus bringen.

Nun aber war derjenige Mensch, welcher der Welt Christus am ursprünglichsten und am wirksamsten brachte, die jungfräuliche Gottesmutter Maria. Sie haben wir in der Heimat als Mutter der Gnaden und der Barmherzigkeit, aber auch als heilende Schmerzensmutter besonders verehrt. Die Heimatvertriebenen haben sie in der Gewißheit ihrer Hilfe in kindlicher Frömmigkeit angerufen. Das wollen auch wir wieder in diesem Monat in besonderer Weise tun, im Vertrauen darauf, daß sie sich uns auch in der gegenwärtigen Situation als große Fürbitterin und Helferin bei Christus erweisen wird. Der oberschlesische Dichter Gerhard Kukofka faßte das in den schönen Versen an Maria zusammen:

"Wer sich in deine Mutterhände,
du, gnadenvolle Frau, begibt,
der weiß sich bis ans Lebensende
so tief geborgen und geliebt,
daß alles Leid, das ihn ergreift,
zum Segen seiner Seele reift".